Kolumne Pehl
Die Dynamik und Komplexität unserer Zeit droht, viele Menschen zu überfordern. Deshalb ist es wichtiger denn je, gut für sich zu sorgen.
Christine Pehl, Coach aus Augsburg, weiß: Selbstfürsorge ist eine Schlüsselkompetenz unserer Zeit. Was das bedeutet beschreibt die Expertin für innere und äußere Nachhaltigkeit in diesem Interview. Ihre Maxime: Wer das Handwerkszeug hat, sich selbst zu erden und präsent zu sein, hat einen guten Stand im Leben.
Christine, das Thema Nachhaltigkeit ist ja in aller Munde und doch verstehen Menschen sehr unterschiedliche Dinge darunter. Wie würdest du diesen Begriff für dich kurz zusammenfassen?
Vereinfacht gesagt geht es darum: „Lasst uns so leben, dass auch unsere Kinder und Enkelkinder eine lebenswerte Zukunft haben“. Manchmal beschreibe ich Nachhaltigkeit auch als ein Drei-Säulen-Modell, das ökonomische, ökologische und soziale Anliegen in Balance bringt. Dabei ist es nach meiner Erfahrung essenziell, alle drei Felder gleichermaßen zu leben, sonst wackeln die drei Säulen.
Da sprichst du einen guten Punkt an. Manchmal hat man den Eindruck, es ist in unserer Gesellschaft nicht „erlaubt“, gut für sich zu sorgen. Warum ist Selbstfürsorge so wichtig, gerade in unserer Zeit?
Die meisten Menschen haben weder im Elternhaus noch in der Schule oder Ausbildung gelernt, gut für sich selbst zu sorgen. Doch wer dazu nicht fähig ist, gerät aus der Balance und wird krank. Erschöpfung bedeutet, ich bin nicht mehr Schöpfer in meinem Leben, sondern habe mich er-schöpft. Wir tragen Verantwortung uns selbst gegenüber, uns wohlzufühlen und für Ausgleich zu sorgen. Letztlich steht hinter einem Erschöpfungszustand oftmals eine Sinnkrise. So sind wir eingeladen, uns die Frage zu stellen: Was ist wirklich, wirklich wichtig? Wozu dient mein Leben? Wenn wir darauf Antworten finden, dann haben wir auch unseren Leitstern gefunden, der uns lotst.
Einen Leitstern in einem turbulenten Alltag zu haben, hört sich sehr schön an. Hast du praktische Tipps für uns, wie wir es schaffen, gut für uns zu sorgen?
Selbstfürsorge fängt bei den körperlichen Grundbedürfnissen an, die um die Fragen kreisen: Schlafe ich ausreichend? Esse ich regelmäßig und genieße ich Nahrungsmittel, die gut für mich sind? Trinke ich genug? Es geht zudem um Ruhe und Entspannung. Sorge ich für ausreichend Erholung? Gönne ich mir Spaziergänge und Auszeiten? Ein weiterer Anker ist, Druck und Belastung zu reduzieren. Für eine gewisse Zeit sind wir in der Lage, Überdurchschnittliches zu leisten. Auf Dauer brauchen wir jedoch einen gesunden Rhythmus von Anspannung und Entspannung.
Endet die Suche nach Entspannung nicht oft im Freizeitstress? Ist das dann noch gut im Sinne der Selbstfürsorge?
Ja, solange wir es nicht übertreiben und uns auch in der Freizeit selbst einem hohen Leistungsdruck aussetzen, ist aktive Entspannung gesund. Unser Leben verlangt nach Abwechslung – wenn es zu eintönig wird, riskieren wir, unsere Lebendigkeit zu verlieren. Wir brauchen immer wieder neue Impulse im Alltag, zum Beispiel einen Mal- oder Tanzkurs, der uns freudig stimmt. Auch eine Reise, die uns inspiriert, ist sehr wertvoll. Solche wohltuenden Aktivitäten lassen uns mit allen Sinnen spüren: Wir sind am Leben. Und schließlich geht es um Nähe und Miteinander. Begegnungen und Gemeinsamkeit sind wichtige menschliche Anliegen. Wir brauchen ein Umfeld, in dem wir Zuspruch und Unterstützung geben und bekommen. Wir verdienen es, den Raum für das zu öffnen und zu gestalten, was uns wichtig ist.
Das hört sich nach einer wundervollen Leichtigkeit an und macht direkt Lust darauf, das gleich mal auszuprobieren. Wie geht man dafür am besten vor? Hast du einen Rat für mich?
Ich empfehle einen Dreiklang der Selbstfürsorge in den Tagesablauf zu integrieren. Die Selbstfürsorge im Alltag ist häufig Thema in meinen Coachings. Dann sage ich zu meinen Kunden: Erstens, gehe jeden Tag in die Stille – habe ein Rendezvous mit dir selbst. Frage dich: Wie fühlt sich dein Körper an? Welche Gedanken und Gefühle kommen hoch? Es geht darum, den eigenen Zustand bewusst wahrzunehmen. Im zweiten Schritt folgt die heilsame Reduktion. Was kannst du in deinem Leben einfach weglassen? Gerümpel im Keller und Speicher, übervolle alte Aktenordner? Unsinnige Gewohnheiten oder übertriebenes Surfen in den sozialen Medien? Ziel ist es im wahrsten Sinne des Wortes, Freiraum zu schaffen. Diese freien Räume gilt es zu genießen – und sie drittens: mit neuen Inhalten zu füllen, die für uns persönlich Sinn stiften oder einfach Freude und Genuss bringen. (mehr dazu im Beitrag Die innere Balance ganz einfach wiederfinden).
Das klingt alles sehr nachvollziehbar. Für die meisten von uns wird es eine neue Erfahrung sein, Frei-Räume für sich einfach zu genießen. Da kommt bei mir sofort die Frage hoch: Ist das nicht egoistisch gedacht? Ich müsste ja noch soviel erledigen…
Das höre ich tatsächlich oft, dass viele Menschen es nicht gelernt haben, sich Freiräume zu erlauben. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und sind dazu erzogen worden, ständig zu funktionieren. Das kann schnell zu viel werden. Aber nur wer mit sich selbst im Reinen ist, kann für andere da sein und seinen Aufgaben gut nachkommen. Das hat auch etwas mit Verantwortung zu tun: Ich bin für mich verantwortlich – niemand anders kann mir diese Verantwortung mir selbst gegenüber abnehmen. Unter diesem Aspekt wird der negativ besetzte ‚Egoismus‘ zu einem positiven Begriff im Sinne von: Wer gut für sich sorgt, ist eine Wohltat für andere. Ist es nicht genau das, was wir uns alle wünschen?
Gesunder Egoismus ist also sogar erwünscht im Rahmen der Selbstfürsorge, um letztlich auch besser für andere da sein zu können. Du erwähntest vorhin, wie wichtig Zuspruch ist. Dazu gehört in meinen Augen auch Wertschätzung und positives Feedback zu geben. Zwei Dinge, die wir gefühlt zu selten bekommen. Deshalb hast du für dich eine Love-Box entwickelt. Was ist das?
(lacht) Meine Love-Box ist ein virtueller Ordner, in dem ich alle erfreulichen Briefe, Emails und Bilder sammle. Darin befinden sich positive Nachrichten von Kunden, wertschätzende Worte meiner Seminarteilnehmer, herzliche Zeilen von Freunden oder einfach schöne Erlebnisse. So kann ich an trüben, kalten Tagen die Love-Box öffnen. Mit dem Lesen und Stöbern erwacht meine Freude und die Laune hebt sich. Wertschätzung und positives Feedback vergessen Menschen leider viel schneller als Kritik. Die Love-Box hilft mir dabei, Gutes wieder aufleben zu lassen und mein Herz rasch anzufüllen.
Fotocredits: ©istock/Drazen Zigic, VichienPetchmai, Anna Pismenskova
Systemischer Coach, Beraterin und Dozentin für innere und äußere Nachhaltigkeit. Als Coach und Seminarleiterin begleitet Christine Pehl seit 2010 Privatpersonen und Organisationen, die sich nachhaltig entwickeln möchten. Sie ist Dozentin an Hochschulen, hält Vorträge, leitet Seminare und teilt ihre Expertise in Buchbeiträgen und diversen Veröffentlichungen. Zudem hat Christine Pehl eine körpertherapeutische Ausbildung und coacht Menschen in vielen Berufs- und Lebensfragen.