Kolumne Pehl
Im Laufe ihres Lebens entfremden sich viele Menschen von ihrem inneren Wesen. Viele verbiegen sich, um Erwartungen anderer zu erfüllen und sie beugen sich Zwängen der Schulzeit oder des Berufslebens. Doch was hilft dabei, sich im Laufe der Jahre nicht zu verlieren?
Christine Pehl ermutigt dazu, die eigenen Begabungen und Talente wieder zu entdecken und „müssen“ und „sollen“ aus dem Wortschatz zu streichen. Als Coach, Körpertherapeutin und Rednerin begleitet und inspiriert sie Menschen an Wendepunkten bei der Suche nach dem Sinn. Im Interview erzählt die Augsburgerin, wie eine achtsame Sprache wesentlich zu einer guten Lebensqualität beiträgt. Und sie erklärt, wie befreiend ein Leben ist, das der Maxime folgt: Wo die Gaben, da die Aufgaben.
Liebe Christine, deine Beratungen und Coachings drehen sich um Beruf, Berufung und die innere Klarheit für ein erfülltes Leben. Lass uns heute genauer beleuchten, was uns zu dem macht, was und wer wir sind. Du sagst, wir Menschen seien kein unbeschriebenes Blatt, wenn wir zur Welt kommen. Was genau meinst du damit?
Da habe ich direkt ein wunderschönes Bild vor meinem Auge. Wenn wir auf die Welt kommen, bringen wir unser ureigenes Wesen mit. Das ist eine Art innerer Kern, der uns einzigartig macht. Wer Neugeborene im Krankenhaus beobachtet, weiß: Jedes Baby strahlt etwas Einmaliges, ganz Eigenes aus. Dieses Wesen begleitet uns meist in unserer Kindheit. Doch je größer wir werden, desto mehr verlieren wir den Zugang zu diesem inneren Kern. Schule und Beruf formen uns. Wir verbiegen uns immer mehr und beginnen, zu funktionieren. Wir passen uns dem System an, anstatt uns nach unseren inneren Werten auszurichten. So geraten viele Menschen in der Mitte des Lebens an Tiefpunkte, die wachrütteln. Wer in eine Lebenskrise gerät, beginnt sich zu fragen: Was macht mich aus? Wer bin ich eigentlich? Und wo ist mein Platz auf dieser Welt?
Dein Bild von den neugeborenen Kindern ist faszinierend und schön. Darauf möchte ich gerne aufbauen: Du sprichst in deinen Vorträgen über die Haltung des „Müssen“ und „Sollen“ und wie uns unsere Sprache beeinflusst. Was meinst du damit genau?
„Müssen“ und „Sollen“ sind Wörter, die Druck erzeugen. Diese Begriffe bringen eine gewisse Härte und Schwere in unser Leben und belasten. Wenn wir uns und anderen ständig sagen: Wir „müssen“ oder „sollen“ dieses und jenes, steigt die Anspannung. Typische Gedankenmuster sind: „Ich muss mich mehr um meine Eltern kümmern“ oder „Ich sollte mehr Sport machen“. Auf Dauer entfremden uns diese Denknormen von unserem natürlichen inneren Antrieb. Ich empfehle meinen Klienten: „Schreiben Sie alle Gedanken bewusst auf, die mit ‚müssen‘ und ‚sollen‘ verbunden sind. Und hinterfragen Sie dann, ob die Überzeugungen, die sich auf dem Papier offenbaren, wirklich wahr sind.“ Oft stellen wir fest: Viele unserer vermeintlichen Pflichten legen wir uns selbst auf. Wer direkt das Gespräch mit seinen Eltern sucht, erfährt womöglich, dass sie gar nicht mehr Unterstützung brauchen. Das bedeutet: Wir meinen, oft etwas tun zu müssen, ohne dass andere das von uns erwarten.
Da spüre ich direkt Erleichterung! Doch wie kommen Menschen aus dem Gefühl des Drucks heraus? Wie gelingt die lebensfreundliche Haltung? Wie erreiche ich eine bejahende, stärkende Lebens- und Denkweise?
Hinter wahrer Lebensfreude steckt die Weisheit: Wo die Gaben, da die Aufgaben. Wo mein Geist, da die Begeisterung. Wo mein Ruf, da die Berufung.
Ein guter Anfang ist es, sich selbst mehr Raum und Zeit zu geben. Wer sich achtsam selbst begegnet, erkennt: Was bereitet mir wirklich Freude und schenkt mir Erfüllung? Schon kleine Dinge sind oft wegweisend und nährend. Beispiele sind, gut zuzuhören oder als Gastgeber eine einladende Atmosphäre zu schaffen. Es geht nicht darum, sich mit anderen zu vergleichen und zu beurteilen, wer noch besser ist. Wir meinen oft, nahezu Unerreichbares zu brauchen, um glücklich zu sein. Und wenn das nicht gelingt, sind wir frustriert. Wichtig ist es, herauszufinden, was uns wirklich liegt. Meine Lieblingsübung dazu ist: Nimm an einem ruhigen Tag ein leeres Blatt Papier und schreibe auf, wo und wann du im Leben deine Talente spürst. Oder bitte Freunde, zehn Talente mit dir zu teilen, die sie bei dir sehen. Dieses Feedback von außen ist sehr bereichernd und erleichtert die eigene Suche nach dem inneren Wesen auf wunderbare Weise. Oft offenbaren sich dabei vollkommen neue Ansätze und Aha-Erkenntnisse tun sich auf. Es entwickeln sich erhellende Gespräche, die uns in die richtige Richtung, nämlich zu uns selbst, bringen.
Bei dem Wort Talente denke ich gleich an die Geschichte der Talente, die du auch sehr schätzt. Welche Botschaft steckt für dich hinter dieser Geschichte?
Diese Geschichte findet sich in ähnlicher Weise in allen Religionen. Ich wiederhole sie sinngemäß: Ein Vater möchte sein Gut für längere Zeit verlassen und ruft seine drei Söhne zu sich. Jedem Sohn übergibt er eine bestimmte Menge an Talenten, also Talente im Sinne von Geld. Im übertragenen Sinne stehen die Talente für unsere Stärken und Begabungen. Dafür liebe ich diese Erzählung. Dem Ältesten übergibt der Vater 20 Talente und sagt „Das hinterlasse ich dir, mach was draus, bis ich wiederkomme“! Dem Mittleren gibt er mit denselben Worten 17 Talente und dem Jüngsten 12 Talente. Als der Vater nach längerer Zeit von seiner Reise zurückkehrt, ruft er seine drei Söhne zu sich. Der Älteste sagt: „Vater, schau, du hast mir 20 Talente gegeben und jetzt sind 24 Talente daraus entstanden“. Der Vater freut sich und geht zum mittleren Sohn. Dieser hat aus seinen 17 Talenten 20 gemacht. Auch darüber freut sich der Vater. Danach geht er zum Jüngsten. Der Jüngste mit den 12 Talenten sagt: „Vater, ihr seid ein gestrenger Mann und ich hatte Angst vor Raub und Diebstahl. So habe ich die Talente vergraben und hier habt ihr sie wieder“. Der Vater ist betrübt, dass der Sohn nichts aus dem, was ihm geschenkt wurde, entwickelt hat.
Diese Geschichte trägt eine starke Botschaft in die Welt: Es ist so wichtig, unsere Talente zu erkennen und sie zu nutzen. Jeder von uns hat einzigartige Fähigkeiten und Gaben. Wenn wir diese Talente aus Angst oder Unsicherheit vergraben, verhindern wir, dass etwas Wundervolles daraus entsteht.
Vielen Dank, dass du diese wunderbare Geschichte mit uns geteilt hast. Wie kann diese Botschaft, von innen heraus zu leben und die eigenen Talente zu nutzen, unseren Alltag bereichern?
Wer diese Botschaft beherzigt und danach lebt, erfährt unendlich viel Freude und Erfüllung. Wer seine Talente nutzt, beschenkt sich und andere. Plötzlich spüren Menschen den Sinn des Daseins. Sie stellen ihr Licht nicht unter den Scheffel, sondern leuchten sichtbar. Wer das bereits erreicht hat, wirkt von innen heraus und wird zur Kraftquelle auch für andere. Eine Quelle, die immer sprudelt. Das bedeutet konkret: Wer nicht seinem Wesen entsprechend lebt, strahlt nicht und nimmt sich und anderen das Licht. In meinen Coachings erlebe ich immer wieder: Menschen haben tatsächlich vor ihren Stärken eine größere Angst als vor ihren Schwächen. Sie trauen sich nicht, zu strahlen und so in die Kraft zu kommen. Einfach weil es nicht mehr in ihr Lebensumfeld passt. Und weil sie die Erfahrung noch nicht gemacht haben, wie kraftvoll sie sind, wenn sie mit ihrem inneren Wesen, ihrem einzigartigen Kern, verbunden sind.
Das klingt sehr inspirierend und macht gleichzeitig nachdenklich. Was rätst du Menschen, die sich in ihrem Leben gefangen fühlen und bedauern, ihre Berufung verloren zu haben? Wie kommen sie vom besagten „Müssen und Sollen“ zum „Können und Wollen“?
Ich rate Ihnen, sich Zeit zu nehmen und in sich zu gehen. Nachzuspüren und zu reflektieren. Es ist nie zu spät, den eigenen Weg zu finden. Er beginnt oft mit kleinen Schritten und den Fragen: „Wobei fühle ich mich wirklich lebendig und was lähmt mich?“ Der Schatz liegt oft in der Kindheit: „Was habe ich bereits als Kind gerne und mit Freude gemacht?“
Ich empfehle auch, sich mit Menschen zu umgeben, die ermutigen und unterstützen. Dabei hilft es, sich das berühmte Zitat aus G. E. Lessings „Nathan der Weise“ vor Augen zu führen: „Kein Mensch muss müssen“. Es geht darum, den Mut zu finden, sich selbst und seine Gaben ernst zu nehmen und ihnen Raum zu geben. Schritt für Schritt und unabhängig von vermeintlichen Erwartungen anderer. Denn wenn wir unser Licht leuchten lassen, profitieren wir selbst und die Welt um uns herum. Wir sind mit uns im Reinen. Unser Leben schwingt sich wie von selbst auf „Können und Wollen“ ein und fühlt sich viel leichter an.
Das sind viele großartige Tipps, die sich gut im Alltag umsetzen lassen. Du hast auch ein Buch erwähnt, das dich auf deinem eigenen Weg begleitet hat. Welches Buch ist das?
Das Buch heißt ‚What color is your parachute?’. Es hat mich damals sehr inspiriert, als ich mit meinem Studium fertig war. Im Deutschen heißt es ‚Durchstarten zum Traumjob‘ von Richard Nelson Bolles. Es geht darum, herauszufinden, was in uns angelegt ist, und wie wir diese Talente sinnstiftend beruflich einsetzen. Es ermutigt dazu, nicht einfach nur zu funktionieren, sondern wirklich nach dem zu streben, was Freude und Erfüllung bringt.
Vielen Dank für dieses Gespräch, liebe Christine.
Fotocredits: ©istock/FamVeld, AaronAmat, Ivanko_Brnjakovic
Systemischer Coach, Beraterin und Dozentin für innere und äußere Nachhaltigkeit. Als Coach und Seminarleiterin begleitet Christine Pehl seit 2010 Privatpersonen und Organisationen, die sich nachhaltig entwickeln möchten. Sie ist Dozentin an Hochschulen, hält Vorträge, leitet Seminare und teilt ihre Expertise in Buchbeiträgen und diversen Veröffentlichungen. Zudem hat Christine Pehl eine körpertherapeutische Ausbildung und coacht Menschen in vielen Berufs- und Lebensfragen.